Zu keinem Zeitpunkt ist das Kind Teil der Mutter, von der ersten Zelle an hat es einen biologischen Eigenstatus, so wichtig es auch für das Kind ist, dass es die Mutter zu ihrem eigenen Leben annimmt und die Verbindungen so innig sind. Das Argument mancher Frau, dass der Embryo ihr eigen sei, ist daher ein Irrtum. Hufeland, ein berühmter Arzt der Goethe-Zeit, spricht von einem »Leben in einem anderen Leben«, das mit dem anderen nur so zusammenhängt »wie die Pflanze durch Wurzeln mit dem Boden«.
Philosophen ziehen sich auf Begriffe wie Selbstbewusstsein und Bewusstsein zurück. Selbstbewusstsein ist volles, zur Selbstreflexion befähigtes Bewusstsein, das sich erst im Laufe des Lebens entwickelt. Dieses Kriterium kann nicht gelten, müssten wir doch dann Neugeborenen, Säuglingen, Kleinkindern, Idioten und Menschen in der Altersdemenz das Menschsein absprechen. Bewusstsein? Es gibt naturwissenschaftliche Hinweise, dass ein Fet über Bewusstsein verfügen kann. Aber auch Bewusstsein kann das Kriterium für den Menschen nicht sein. Auch nach Ausschaltung des Bewusstseins in Narkose oder durch ein schweres Hirntrauma mit anhaltendem Koma bleibt der Mensch Mensch.Manche Biologen verweisen auf den Entwicklungsbeginn des Zentralnervensystems und datieren ab hier als erste Möglichkeit der Reizverarbeitung und Empfindung den Beginn des menschlichen Daseins.
Sie nehmen die intensivmedizinischen Kriterien des Hirntodes auf und definieren entsprechend eine Situation des Noch- nicht- Hirnlebens. Sie bieten mit diesem Noch-nicht-Hirnleben und dem Hirntod, als Beginn und Ende, einen Rahmen an, innerhalb dessen menschliches personales Leben ethisch gewürdigt und rechtlich geschützt werden sollte. Auch diese Definition kann nicht den menschlichen Daseinsdimensionen vor der Geburt gerecht werden, und im Grunde auch nicht vielen anderen Daseinsformen, in die die Krankheit den Menschen elendiglich hineinmanövrieren kann.
Hier ist man beim Begriff der »Willensunfähigen«, denen ein neues Gesetz in den Niederlanden den »Erlösungstod« ermöglichen soll. Hier ist man wieder beim »lebensunwerten Leben« oder bei jenen »leeren Menschenhülsen «, die als entwicklungslose fehlgebildete Menschenkinder geboren werden und die man beseitigen kann und soll. Denn sie »haben nie gelebt, können folglich auch nicht sterben«, wie heute von manchen zum Beispiel in der Diskussion um die Anenzephalen, die großhirnlosen Neugeborenen argumentiert wird. Dass sie sowieso nicht lebensfähig sind, nach Stunden oder Tagen sowieso sterben, sei nur am Rande bemerkt.
Haeckels Prinzip von 1866 ist passe, dass der Embryo auf bestimmter früher Entwicklungsstufe die Entwicklung von Tierarten noch potentiell durchlaufe, überholt und annulliert einfach schon von der Tatsache, dass das in den Genen niedergelegte Entwicklungsprogramm immer einfach nur den Menschen verwirklichen kann.
Das überzeugendste und zugleich einfachste Kriterium ist die biologische Formulierung: die Zugehörigkeit eines Wesens zur biologischen Species Homo sapiens, ein Ereignis, das bei der Vereinigung einer menschlichen Eizelle mit einer menschlichen Samenzelle beginnt und in seine Potenz schon jetzt alles eingeschlossen hat, was in verschiedener Daseinsform menschliches Leben hat, Mensch ist. Der gesamte neue Mensch tritt mit der Zeugung ins Dasein.
Jeder Versuch, einen späteren Zeitpunkt als »eigentliche« Menschwerdung festzulegen, ist künstlich, und mag dies aus verschiedenen Gründen noch so wünschenswert sein, es ist biologisch unhaltbar. Kein weiteres Ereignis im menschlichen Leben ist diesem Verschmelzungsvorgang aus Ei und Samenzelle vergleichbar, alles spätere ist abgeleitete Episode. Alles ist von diesem Augenblick an als eine Einheit zu betrachten und zu verstehen: nicht nur die körperliche, sondern auch die psychische Entwicklung des Menschen von der Zeugung an über das Leben im Mutterleib, die Geburt und die danach sich vollziehende weitere Reifung - das ganze Leben bis zum Tode eine unteilbare Ganzheit.
Wir können überhaupt nicht mehr von Menschwerdung sprechen. Hier wird nicht etwas zum Menschen, das ungeborene Kind ist von der Zeugung an Mensch. Es braucht nicht »zur Welt zu kommen«, es ist längst in der Welt. Das »eigentliche Leben«, wie man so am Tag des Geborenwerdens sagt, beginnt nicht erst, es hat längst begonnen.
Quelle: "Die Welt des ungeborenen Kindes" von Prof. Michael Hertl (R.Piper GmbH&co.KG, München 1994)